Tausend Träume


das erste Buch über die Musik von Udo Jürgens

Leseproben


Mitten durchs Herz (1995)

Wie die Wärme eines Zimmers, eines Häuschens für die Empfindung nur dann erhalten bleibt, wenn man nicht die Fenster und Türen auf-, gar die Wände einreißt, so hängt auch die spürbare Wärme unserer Gefühle unter vielem anderen davon ab, wie groß der Raum ist, den sie erfüllen. Die Möglichkeit von Liebe ist an Beschränkung gebunden: wir können – zumindest solange die Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich ihre Macht über uns nicht verloren hat – nur einige wenige Menschen lieben, nicht die ganze Menschheit, und je größer der Kreis derer ist, denen die Liebe einer bestimmten Person gilt, umso weniger Liebe ›entfällt‹ auf den Einzelnen (genaue Relationen bestehen natürlich nicht, zumal Liebe nicht Zuwendung ist; wäre sie’s, hätte jeder Erstgeborene allen Grund zur Eifersucht auf jede ›Nachgeburt‹, nicht nur das bescheidene Recht darauf, das oft an der Wurzel von Eifersucht liegt). Als Udo Jürgens Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre seine frühen Ariola-Lieder komponierte, war die Welt, in der er und sein Publikum lebten, kleiner als heute: Deutschland war ein geteiltes Land, die Europäische Union, kaum mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), umfaßte sechs Staaten, in der Bundesrepublik gab es zwei flächendeckende Fernsehkanäle und eine Reihe regionaler dritter Programme. Der Personalcomputer war noch nicht erfunden, und daß es einmal ein ›Internet‹ geben könnte, dieser Gedanke wurde nur von Fachleuten der Telekommunikation gedacht. Die Welt der Liebeslieder von Udo Jürgens war auch insofern kleiner, als sie eher die Welt Heranwachsender als Erwachsener war. All dies bedacht, ist es wenig erstaunlich, daß die gefühlsmäßige Intensität dieser frühen Lieder größer ist als die vergleichbarer späterer Lieder. Aber wenn die Weite sich einmal aufgetan hat, dann soll man auch versuchen, sie zu bewohnen. ›Mitten durchs Herz‹ (1995) ist der musikalische Entwurf eines solchen Versuches, der Entwurf von Liebe in Zeiten einer größer gewordenen Welt. Man lasse sich von der Kraft, die von diesem Lied ausgeht, nicht täuschen: sie ist nicht die Kraft »tiefer« Leidenschaft und Liebe, auch wenn der Text von Michael Kunze das glauben machen will:

Ich war schon tausendmal an ein Gefühl verloren,
ich kenne jedes Glück und jede Art von Schmerz.
Doch es war nie so tief, es geht mir diesmal
mitten durchs Herz.
[…] ich begreif’ erst jetzt,
was Liebe ist.

Die Kraft, die die (mit reichlich Hall versehenen) Akkordschläge des Flügels und die wummernden Bässe in diesem mitreißenden und trotz der Bässe lichten Stück entfalten, bezeugt nicht die Kraft starken Liebesvermögens. Sie entstammt der Gewalt, mit der etwa die Bilderflut der Medienwelt, das MG-Feuer rascher Filmschnitte und nicht zuletzt die Druckwellen musikalischer Kraftentfaltung selbst auf unsere Sinne treffen, einer Gewalt, die wir uns anverwandeln, zu eigen machen müssen, wenn wir ihr standhalten wollen.